Er hatte lange den Ruf weg als „Experte des Ostens“. Ein Spaziergang mit Christian Schwochow durch seine Ost-Berliner Kindheit.
Diese Geschichte beginnt mit einem Teufel. Einem kleinen, schwarzen Teufel aus Stein, der aus der Höhe fratzenartig herab grinst. Eine Figur, wie man sie vielleicht auf dem Turm von Notre-Dame erwarten würde, aber nicht auf einem Dach im Prenzlauer Berg. Wir stehen im Hinterhof eines Altbaus in der Schönhauser Allee, zwischen Mila- und Gaudystraße.
Hier ist der Filmregisseur Christian Schwochow aufgewachsen. Im Vorderhaus hatte sein Großvater im vierten Stock eine Tierarztpraxis und darunter seine Wohnung. Im Hinterhaus hat Christian Schwochow dann in den 80er-Jahren im Erdgeschoss gewohnt.
Ein Teufel, vor dem er sich immer gegruselt hat
Damals gab es noch nicht, wie heute, den kleinen Garten mit Baum im Hof. An der Stelle standen damals Kohlehaufen. Entsprechend waren die Fenster zum Hof und Schwochows Kindheit immer verrußt und verschmiert. Aber der Blick aufs Dach des Vorderhauses war frei. Und auf den Teufel, vor dem sich der kleine Christian sehr gegruselt hat.
In der Schönhauser Allee hat Schwochow, Jahrgang 1978, mit seinen Eltern bis 1989 gewohnt, erst im Haus des Großvaters, später auf der Straßenseite gegenüber. Dann haben seine Eltern einen Ausreiseantrag gestellt. Er wurde genehmigt – am 9. November 1989. In der Nacht darauf fiel die Mauer. Sie hätten bleiben können. Aber die Koffer waren schon gepackt.
„Für meine Eltern“, so Schwochow, „ging das psychologisch nicht, sie noch mal auszupacken.“ Sie sind dann nach Hannover gekommen, haben sich aber nur schwer zurecht gefunden in diesem Westen, in dem sich nichts verändert hatte, in dem alle so unpolitisch waren. Sie sind trotzdem geblieben, bis zum Abitur des Sohnes, weil die Schulsituation in Berlin nach der Wende, wie der Filius meint, „unübersichtlich und zum Teil ganz anarchisch“ war.
Gleich nach dem Abitur zurück nach Berlin
Er selbst zog aber schon am Tag nach dem Abitur zurück nach Berlin. Seine Eltern kamen bald hinterher. Sie wohnen nun wieder in unmittelbarer Nähe. Und als Schwochow mit seinem Filmstudium fertig war, das ihn noch tiefer in den Westen, nach Ludwigsburg, geführt hatte, ist er 2006 zurück in das Haus seiner Kindheit gezogen. In die Wohnung der inzwischen verstorbenen Großmutter. Hier hat er bis vor fünf Jahren gelebt. Und von der Wohnung aus konnte auch seine Tochter auf den Teufel schauen. Der von da oben aber gar nicht mehr so schrecklich aussah.
Eine „Deutschstunde“ der ganz privaten Art
Heute ist Christian Schwochow einer der wichtigsten Filmregisseure Deutschlands. Er hat den Bestseller „Der Turm“ fürs Fernsehen adaptiert, hat mit „Westen“ einen beklemmenden Film über DDR-Flüchtlinge im Notaufnahmelager gedreht. Kein Zufall, dass dabei ein kleiner Junge im Mittelpunkt stand: Er hat damit auch seine eigene Erfahrung über das Ankommen in der Fremde verarbeitet.
Und dann hat Schwochow mit „Bornholmer Straße“ den komischsten Film über den Mauerfall gedreht. Durch diese Werke hatte er allerdings auch das Etikett vom „Experten des Ostens“ weg. Was ihn schon ärgert: Wenn ein Filmemacher aus München Filme über die Bundesrepublik dreht, würde man ihn auch nicht „West-Experten“ nennen.
Schwochow hat dann konsequent bewiesen, dass er auch anders kann. Hat mit dem ersten Teil der Trilogie „NSU – Mitten in Deutschland“ einen hochaktuellen Film über die Braune Zelle um Beate Zschäpe gedreht, danach den Historienfilm „Paula“ über die Malerin Paula Modersohn-Becker und schließlich die Serie „Bad Banks“ um kriminelle Machenschaften im internationalen Bankensystem.
Seit kurzem auch international unterwegs
Für alle diese Produktionen hat der Regisseur zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter allein vier Grimme-Preise. Er ist jetzt auch international beschäftigt, hat etwa zwei Folgen der neuen Staffel von „The Crown“ in England gedreht. Gerade hat er Siegfried Lenz’ „Deutschstunde“ neu verfilmt. Den Kultroman der 68er-Generation, zumindest im Westen der Republik.
Aber obschon er sich thematisch längst von seinen Ursprüngen getrennt hat, wird er doch immer wieder darauf angesprochen. Weil er, wie er ironisch meint, zweitberuflich Zeitzeuge ist. Deshalb führt er uns auf unserem Spaziergang durch seine Kindheit. Eine Deutschstunde der ganz anderen Art.
Beim Spazieren kommen ihm die besten Ideen
Er geht gern und viel spazieren. Dabei kriegt er einen klaren Kopf, dabei kommen ihm oft die besten Ideen. Und auch in seiner „Deutschstunde“ wird viel am Meer spaziert. Wir dagegen spazieren in einem großen Trapez durch seine Kindheit.
Von der Schönhauser Allee führt er uns in die Eberswalder Straße 11-12. Hier war sein Kindergarten. Eigentlich nur eine Baracke, aber mit einem schönen Garten dahinter. Heute ist da immer noch der „Kindergarten am Hirschhof“ – und kein McDonald’s oder Coffeeshop, wie sonst überall.
Wir laufen dann die Schwedter Straße entlang durch den Mauerpark, wo uns absurderweise der Schauspieler Jürgen Vogel auf einem E-Roller entgegen saust und uns verschmitzt zuwinkt. „Das Verrückte ist, wir Kinder waren ,die Kings der Schönhauser’, und wir haben hier gespielt. 30 Meter entfernt von der Mauer“, erinnert sich Schwochow. „Das war ein völlig normales Bild.“
„Da sagen wir auch mal kurz Hallo“
Drüben im Cantianstadion hatte er auch Schulsport. Aber heute kommt er nur noch selten hierher. Weil er sich immer „extrem zwiegespalten“ fühlt bei dem Rummel im Mauerpark.
Am Falkplatz vorbei kommen wir auf die Gleimstraße und an die Schule am Falkplatz. „Krass, hier sieht alles noch wie damals aus“, meint Schwochow. Damals, als die Schule noch keine Grundschule war, sondern die 7. Oberschule „Albert Kuntz“.
Spontan kommt er auf die Idee, zu fragen, ob noch eine Lehrkraft aus seiner Schulzeit hier lehrt. Im Sekretariat erfahren wir: Ja, eine Sachkundelehrerin gibt es noch. Sie hat gerade Unterricht. Schwochow überlegt, ob wir vor dem Klassenzimmer auf sie warten sollen, verwirft den Gedanken aber wieder. Er lässt schön grüßen.
Kaum draußen angelangt, läuft er dafür einer Freundin über den Weg: die Schauspielerin Teresa Weißbach, die mit 17 mit Leander Haußmanns „Sonnenallee“ bekannt wurde. „Da sagen wir auch mal kurz Hallo, oder?“ Sie hat gerade „Erzgebirge-Krimis“ fürs ZDF abgedreht, nun geht sie mit zweien ihrer drei Kindern spazieren. Ein kurzer Plausch, und man verabredet sich für einen Abend. „Gleich im nächsten Jahr!“ Irre. So beschäftigt ist Schwochow.
Die halbe Kindheit im Kino verbracht
Dann geht es vorbei am Colosseum, Schwochows erstes Kino, in dem er seine halbe Kindheit verbrachte. „Kinderfilme am Wochenende für 25 Pfennige!“ Schließlich kommen wir über die Schönhauser Allee in die Stargarder Straße, zur Gethsemanekirche. Schwochow ist hier getauft worden, seine eigene Entscheidung, 1988, mit zehn Jahren. Im Osten – Schwochow sagt nie „DDR“ - war die Kirche ein Ort für Andersdenkende. Und 1989, als immer mehr DDR-Bürger über Ungarn geflohen sind oder sich in die Prager Botschaft absetzten, gehörte er, damals elf Jahre jung, mit seinen Eltern zu den Allerersten, die in dieser Kirche Montags-Andachten besuchten. Das waren anfangs 20 Menschen, bald sollten es 5000 werden. Wir betreten die Kirche.
An seinem 18. Geburtstag war Christian Schwochow in New York. Im MoMA. Er hat dort in einem Fotobuch geblättert und stieß auf ein Foto von den riesigen Massen in der Kirche. Da muss ich auch drauf sein, dachte er, und wirklich hat er sich unter all den kleinen Köpfen gefunden. Mit seinen Eltern. Und seiner Oma.
Wie ist das heute? Wie fühlt er sich jetzt hier? „Um den Prenzlauer Berg zu lieben, kann ich hier nicht wohnen“, gibt er zu. Vor fünf Jahren ist er bewusst weggezogen. Nicht nur wegen seines zweiten Kindes. „Ich habe gemerkt, dass ich hier weg muss.“ Der Kiez war schon komplett gentrifiziert. Er habe sich, mit kaum 40, plötzlich alt gefunden.
Mit 40 zu alt für den Prenzlauer Berg
Weil es keine alten Leute mehr gab und auch kaum ganz junge. Weil hier das normale Leben nicht mehr stattfindet. Er aber findet es wichtig, dass seine Kinder in einem Areal aufwachsen, in dem nicht alle Eltern Spitzenverdiener sind und sich schon in der Kita einen Kopf machen, in welche Privatschulen die Sprösslinge mal gehen sollen.
Und wie geht er dann mit dem Jubiläum 30 Jahre Mauerfall um? „Mit solchen Jubiläen“, gibt er zu, „kann ich nicht viel anfangen.“ Jahre lang wurde immer wieder auf Veranstaltungen eingeladen und hat von seinen Erfahrungen erzählt. Und damit wir das auch ja nicht falsch verstehen, betont er: „Natürlich freue ich mich immer noch, dass die Mauer auf ist. Ich habe davon sehr profitiert.“ Aber bei Jubiläen sei er gefühllos.
Filme zu Jubiläen findet er absurd
Er hätte auch nie zu irgendwelchen Jahrestagen den TV-Film zum Anlass drehen können, auch wenn er in der Vergangenheit mehrmals dazu angefragt wurde. Das kommt für ihn nicht in Frage, Jubiläumsfilme findet er „absurd und altmodisch“.
Am 9. November wird er auch nicht an irgendwelchen Festivitäten teilnehmen. Da steckt er längst in seinem neuen Projekt. Und am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, startet ja sein neuer Film „Deutschstunde“. Das sei ganz gut, da habe er derzeit ganz andere Gedanken.
Wir sitzen inzwischen im „Blumencafé“ in der Schönhauser Allee, in das auch ein Blumenladen integriert ist und das für seine Papageien berühmt ist, die Schwochow prompt bei seinen Erinnerungen laut krächzend unterbrechen. „Deutschstunde“ sei mit Abstand sein politischster, sein wichtigster Film, von dem er sich erhofft, dass er breit diskutiert wird.
Ein Buch als Parabel auf unsere Zeit
Den Roman hat er schon als Filmstudent gelesen. Er hat ihn umgehauen. Schwochow dachte damals schon, wenn er mal groß sei, wäre das ein Stoff für ihn. Nun ist das wahr geworden. Der Roman wurde erst einmal verfilmt, 1977, das Drehbuch schrieb Siegfried Lenz. Ein Fernsehzweiteiler, der nie wiederholt wurde. „Das Buch musste neu verfilmt werden.“
Das Drehbuch hat, wie so oft bei Schwochow, seine Mutter Heide Schwochow geschrieben. Wieder steht ein Junge im Zentrum, wie in „Westen“, wie in „Der Turm“. Dieser wird hin- und hergerissen zwischen seinem Vater, dem Dorfpolizisten, und dessen besten Freund, ein Kunstmaler, der von den Nazis als entartet verfemt wird und auf den sein Vater nun aufpassen muss, damit er nicht heimlich weiter arbeitet.
Es geht um deutsche Schuld und sture Pflichtausübung wider besseren Wissens. Es geht um ideologische Verblendung, aber auch um Widerstand und Courage. Ein Film über die NS-Zeit, keine Frage. Aber darin sind keine Hakenkreuze, keine Hitlergrüße und auch nicht die üblichen Kriegsbilder zu sehen. Dafür will Schwochow weit über die Zeit hinaus auch etwas über das Heute erzählen.
Schon in seinem NSU-Film hat er gezeigt, wie Jugendliche aus dem Osten in den ersten Wendejahren, in denen alle Werte plötzlich nichts mehr wert waren, sich im braunen Sumpf verloren. In „Deutschstunde“ zeigt er das auf andere und nur scheinbar historische Weise noch einmal: „wie das faschistische Gift sich ausbreitet, wie es überlebt und wie ein Alien wiederkehrt.“
Teufel der Kindheit und Teufel der Jetztzeit
Das, meint er, sei „die Tragik unserer Zeit“. Als sie vor vier Jahren mit der Stoffentwicklung begannen, wunderten sie sich, warum nicht früher jemand darauf gekommen ist: Es ist doch DER Stoff, der etwas über unsere Zeit erzählt. Das Wiedererstarken der Rechten, wider besseren Wissens.
Schwochow ist dem Titel so dankbar: „Deutschstunde, das muss auch als Lehrstück verstanden werden.“ Dass der Film nun genau in diesen Wahlherbst fällt, wo Brandenburg und Sachsen gerade gewählt hat und Thüringen noch folgen wird, sei reiner Zufall.
Und doch, findet der Regisseur, kommt sein Film genau zur richtigen Zeit. Es sei doch verrückt, wenn man jetzt bei Umfragen schon erleichtert sei, wenn die AfD in einem Ost-Land nur die zweitstärkste Kraft sei. „Diese Teufel, ich muss das echt so sagen, haben es wirklich geschafft, in den letzten Jahren viele Leute um den Finger zu wickeln.“
Unser Spaziergang begann mit einem Teufel aus tiefer Kindheit und endet mit anderen, ganz heutigen Teufeln. Nur dass sich Schwochow vor diesen nicht fürchtet, sondern sich ihnen couragiert entgegenstellt.
Zur Person
Anfänge Christian Schwochow, 1978 auf Rügen geboren, wuchs in Ost-Berlin auf. 1989 stellten seine Eltern einen Ausreiseantrag. Er wurde genehmigt – am 9. November. Sie gingen trotzdem. Seine Jugend verbrachte Schwochow in Hannover, studiert hat er an der Filmhochschule Ludwigsburg.
Karriere Gleich für seinen Erstling „Novemberkind“ gewann er 2008 den Publikumspreis auf dem Max-Ophüls-Festival. Es folgten Filme wie „Der Turm“, „Westen“ oder die Mauerfall-Satire „Bornholmer Straße“, die alle zahlreiche Preise erhielten. 2016 drehte Schwochow den ersten Teil der TV-Trilogie „NSU – Mitten in Deutschland“, zwei Jahre später seine erste Serie „Bad Banks“.
Aktuelles Zuletzt hat Schwochow an zwei Folgen der britischen Serie „The Crown“ gearbeitet. Am 3. Oktober kommt sein neuer Film „Deutschstunde“ ins Kino, nach dem Roman von Siegfried Lenz. Wie in vielen seiner Filme hat seine Mutter Heide Schwochow dazu das Drehbuch geschrieben.
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Spaziergang Wir trafen uns an der Schönhauser Allee zwischen Gaudy- und Milastraße. Es ging über die Eberswalder Straße durch den Mauerpark, den wir bis zum Falkplatz durchquerten. Danach ging es über die Gleimstraße zur Gethsemanekirche und von dort zurück zur Schönhauser Allee.